Moderne Trauerkultur – Ein Portrait über die Erinnerungswerkstatt „Vergiss Mein Nie“

Moin,

„Ich wollte Trauernden ihre Farbe zurückgeben, denn die bekommen oft Dinge nur in grau oder schwarz zur Auswahl“, sagt Anemone Zeim. Die 39-Jährige Geschäftsführerin der Hamburger Erinnerungswerkstatt und Trauerberatung „Vergiss Mein Nie“ weiß wovon sie spricht. Sie selbst hat als Jugendliche ihre Schwester verloren und hat es sich nun zur Mission gemacht, Trauerkultur neu und modern zu gestalten.

Bunt ist das neue Schwarz

Jahre später nach dem Tod ihrer Schwester verlor auch Anemones Mutter den Kampf gegen den Krebs. Die gelernte Werberin gestaltete selbst die Trauerkarten. Eine ganz besondere Karte, die ihrer Mutter gerecht wurde. „Mama hatte drei Jahre Krebs und das war auch richtig scheiße, aber die 70 Jahre davor, hatte sie ein pralles und so lustiges Leben. Die war Künstlerin und ständig unterwegs. Das alles kann man auf der Karte nicht sehen. Willst du Angst machen oder sagen „Ja, hier war jemand, der hat was Krasses hinterlassen.“ Eine wahrlich bunte Alternative anstelle des sonst gern genommenden alten Vögelchens, der im Subtext zwitschert: „Krebs! Es ist alles scheiße, wir werden alle sterben“.

Eine Trauerkarte von „Vergiss mein nie“. Fotos: Vergiss mein nie

Anemone wollte eine Karte, die mitten aus dem Leben gegriffen sein sollte und die Leute sollten sehen, hier ist jemand gestorben, aber den sollte man in guter Erinnerung behalten. Die Bestatterin fragte sie damals nach Post und der Kommunikation und da sagte mein Vater dann: „Ne, das hat meine Tochter schon gemacht“, und zeigte ihr dann die Karte. Die Bestatterin fiel dann ein bisschen aus ihrer Rolle und fragte spontan, ob sie für sie Arbeiten wolle. Anemone schmunzelt: „Beim Floristen war das ähnlich. Da habe ich mir viele Bilder von schlimmen und enggebundenen Kränzen angeguckt und habe gesagt, dass ich das alles nicht so will. Ich hätte lieber eine Blumenwiese, die über den gesamten Sarg läuft.“ Sie rechnete mit einer Absage, aber am nächsten Tag rief die Floristin sie an und sagte nur, dass sie sich bedanken wollen, weil sie noch nie so etwas schönes machen durften.

Der Zuspruch gab ihr Rückenwind – und sie gründete „Vergiss mein nie“

Zurück in ihrem Job als Werberin Damit war dann schon der zweite Dienstleiter dankbar, aber zurück in Hamburg in der Werbung fragt sie sich dann, ob sie noch Werbung für ein Shampoo texten könne. „Das war das letzte Tröpfchen und ich dachte, irgendwie ist an dieser Trauerkarten-Nummer“ was dran“, sagt Anemone. „Dann habe ich recherchiert, aber mit Trauerkarten kannst du kein Business aufbauen. Aber ich wollte gerne eine Exit-Strategie haben und habe mir irgendwann diese Erinnerungswerkstatt ausgedacht.“

„Es gibt so viele Dienstleistungen rund um das Thema Trauer, aber keiner kümmert sich irgendwie wirklich um Erinnerungen“

Anemone, Gründerin von „Vergiss mein nie“

„Der Anfang von „Vergiss mein nie“ bestand darin, dass sie sich sehr stark mit der Vergangenheit beschäftigt habe,“ erzählt Anemone. „Mit der Erinnerungswerkstatt fing alles an. Es gibt so viele Dienstleistungen rund um das Thema Trauer, aber keiner kümmert sich irgendwie wirklich um Erinnerungen. Dabei können Erinnerungen einem ganz plötzlich um die Ohren fliegen oder einen ertappen. Das kann in Situationen sein, in denen man das gar nicht so verstecken kann“, führt sie weiter aus. Genau da setzt die Erinnerungswerkstatt an, denn hier geht es ins Künstlerische. Es geht um die vorwurfsvoll schauenden Andenken, die nur so rumliegen, weil man sie irgendwann mal mitgenommen hat, aber einem dennoch wichtig sind. Bei denen man noch nicht weiß, wie die jetzt in den Alltag passen sollen, entwickelt sie mit ihren Kolleginnen Alltagsbegleiter.

Trauermonster als Trostspender

Das eigens kreierte Trauermonster.

„Vergiss mein nie“ offenbart eine feinfühlige Auswahl von kleinen und größeren Trostspendern, wie etwa das Erinnerungsmobile, welches mit Fotos und anderen kleinen Gegenständen selber gebastelt werden kann, oder etwa eine kleine Lichtbox. Von liebevoll gestalteten Karten ohne Plattitüden bis hin zu einer großen Trauerbegleitbox, findet man hier alles um etwas Licht und Kraft in eine dunkle Zeit zu „Vergiss mein nie“ ist auch die einzige Trauerberatung mit einem eigenem „Trauermonster“. Es gibt sogar eine eigene Karten-Serie mit dem Trauermonster.

„Trauer funktioniert auch so, dass der Trauernde meist versucht den Zustand der Vergangenheit wieder herzustellen. Mit all seinen Sinnen versucht er meist krampfhaft das gestern wieder real werden zu lassen, weil ja die Welt da noch in Ordnung war. In dem Moment, wo du das Hier und Jetzt wieder akzeptierst, kannst du auch wieder nach vorne gehen. Du darfst aber auch alles mitnehmen. Da ist es natürlich fatal, wenn einem in der Trauer gesagt wird, dass man loslassen muss. Die Leute denken dann, sie verlieren nochmal alles. Alles, was von den anderen in dir angeleuchtet wurde, darfst du mitnehmen. Das ist dein Schatz. Alles was du erlebt hast mit der Person, sollst du mit in die Zukunft nehmen. Das ist ein ganz heilsamer Prozess, der verbildlicht wie ein Trauerprozess, ein intrinsischer Prozess, eigentlich läuft,“ erklärt Anemone weiter.

„Alles, was von den anderen in dir angeleuchtet wurde, darfst du mitnehmen“

Nach der Erinnerungswerkstatt kam dann auch die Trauerberatung hinzu, „weil das so eine schöne kreative Arbeit ist. Es geht um Ausdruck, aber auch viel um transgenerationale Themen inzwischen.“ Dabei kann die Trauerberatung entweder bei „Vergiss mein nie“ in Hamburg oder als Videosprechstunde wahrgenommen werden. Beides kann auch bei Tiertrauer in Anspruch genommen werden. Es gibt auch alle 14 Tage eine Gruppensitzung, die sich mit der Verarbeitung dem Thema Tiertrauer befasst.

Das Trauertagebuch.

Wenn ein Tier geht…

Es macht keinen Unterschied, ob es Trauer um ein Menschen oder ein Tier ist. Die Tiertrauer war zuerst nur so ein kleines Nebenprojekt und dann hat sie eine Freundin begleitet, deren Hund schon uralt war und der eingeschläfert werden musste. Anemone erzählt weiter, dass die Freundin dann den Tierarzt gefragt, ob sie das Tier dann nochmal beim Tierbestatter sehen darf. „Ich bin dann mit ihr dahin und der Hund lag dann da und wurde etwas angewärmt und war skeptisch“, sagt sie. „Aber als ich meine Freundin dann sah, sah ich dass das alles total Sinn macht. Denn das Tier ist ja heutzutage auch Partner- und Kindersatz. Der Hund ist auch toller Trauerbegleiter, denn er kennt kein Morgen und kein Gestern, er zieht einen immer zurück ins Jetzt.

Auch zur Vorbereitung auf das Einschläfern, oder wenn das Tier schon sehr alt, kann eine Beratung helfen. Gerade auch als Hilfestellung um es Kindern nahe zu bringen. Darüber haben die Mädels bei Vergissmeinnie auch Videos auf ihrem YouTube-Kanal.

Der Trauerklotz.

Innere Ruhe und Empathie als Einstellungskriterium

„Trauernde, die zu uns kommen sind so fragil, die sind in ihrer schwächsten Stunde und wir haben eine riesen Verantwortung ihnen gegenüber. Da muss eine Haltung da sein, dass man für die Betroffenen da ist für eine bestimmte Zeit um denen zu zeigen, wie sie da am besten mit umgehen können.“ Sie und ihre Kolleginnen müssen dafür besondere Skills haben. „Man muss dafür innerlich aufgeräumt sein und es muss dir bewusst sein mit welchen Energien du arbeitest. Trauer löst auch viel bei einem selbst aus. Da muss man auch auf sich selber aufpassen.“

Das sind Skills, die ihre Mannschaft alle inne hat. Mittlerweile besteht das Team rund um Vergiss mein nie aus einem vierköpfigen Team: Anemone als Trauerexpertin, Prozessbegleiterin, kreativer Kopf und Geschäftsführerin. Bianca ist Designerin und Illustatorin mit der Gabe, beängstigende Themen mit einer Leichtigkeit in Bilder umzusetzen. Carina ist ebenfalls Coach und Podcasterin und Social-Media-Beauftragte. Ihr Podcast heißt „Am Ende interessiert es jede*n“.

Das Ladenlokal „Vergiss Mein Nie“ liegt in der Eimsbüttler Chaussee in Hamburg.

Anemone hat eine Vision

Die Vision der „Vergiss mein nie“-Mädels ist klar. „Wir möchten die Trauerkultur verändern.“ Vor ein paar Jahren hätte sie sich das noch nicht getraut, es so zu formulieren, aber jetzt bildet Anemone selbst Trauerbegleiter aus. „Wenn wir Leute ausbilden, die wiederum auf andere Leute wirken, können wir die Trauerkultur verändern. Wir sind sehr vorwärts gerichtet und das freut die Leute auch. Denn wir verwechseln Trauer nicht mit Schmerz. Es wird ja immer so um den Schmerz gekreiselt und mein Ansatz, kommt auch aus meiner Geschichte. Aber auch aus meiner Erfahrung als Trauer- und Prozessbegleiterin. „

Wir danken Anemone und ihren Mitarbeiterinnen für ihre wertvolle Arbeit und freuen uns in naher Zukunft, wenn es wieder erlaubt ist, einen Trauerworkshop bei ihr zu besuchen.

Euer Deichdeern-Team
Pearl und Julia

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